24.01.2020
Pflegegrad Modul 3: Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
Die Beurteilung des Pflegegrads ergibt sich aus mehreren Modulen. Im dritten Modul geht es um Verhaltensweisen und psychische Problemlagen.
Bei Verhaltensweisen ist die Frage vor allem, ob die pflegebedürftige Person sich oder anderen schadet oder die Pflege sogar schwieriger macht oder zu verhindern versucht. Außerdem geht es um Verhaltensweisen, die die Pflege aufwändiger machen oder einfach bedeuten, dass die Person mehr Zeit benötigt.
Wie auch in den anderen Modulen, gibt es bei der Beurteilung vier Abstufungen, hier allerdings bis zu fünf Punkte:
· Die Einschränkung tritt nie oder selten auf – 0 Punkte
· Die Einschränkung tritt selten (ein- bis dreimal in zwei Wochen) auf – 1 Punkt
· Die Einschränkung tritt häufig (mehrfach pro Woche) auf – 3 Punkte
· Die Einschränkung tritt täglich auf – 5 Punkte
Wir setzen unser Beispiel fort und besprechen die einzelnen Kriterien auch anhand von Frau Müller aus den ersten beiden Artikeln zu den Pflegegradkriterien Mobilität und Kognitive und Kommunikative Fähigkeiten.
In diesem Modul gibt es keine so klaren Abgrenzungen, was in das jeweilige Feld fällt. Deswegen ist es wichtig, alle Auffälligkeiten zu erwähnen.
Auch wenn es mehrere solcher Auffälligkeiten gibt, ist insgesamt die Häufigkeit immer ausschlaggebend, nicht die Schwere. Außerdem „zählen“ nur Auffälligkeiten, die personelle Unterstützung benötigen – beispielsweise das Beruhigen oder Zurückführen in den eigentlichen Raum.
Verhalten 1: Motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten
Hierbei geht es um unterschiedliche Verhaltensweisen, die vor allem auf Bewegung ausgelegt sind. Entweder in Form von „Unruhe“: Umherlaufen, Aufstehen und Hinsetzen, Herumrutschen (oder auch „wegrutschen“ von Stühlen oder aus dem Bett). Oder in Form von gezielten, unangemessenen „Ausflügen“: Manche Patienten stehen plötzlich im Zimmer oder der Wohnung von anderen, verlassen die Wohnung oder das Haus oder gehen im Treppenhaus auf- und ab (ohne dafür eine gute Erklärung zu haben).
Beispiel: Frau Müller nestelt zwar mal unruhig an einem Kleidungsstück oder steht auf, wenn sie sich im Gespräch unwohl fühlt. Das sind aber keine vollkommen unkontrollierten Handlungen, die der Betreuung bedürfen. Daher hat sie hier keine Einschränkung.
Verhalten 2: Nächtliche Unruhe
Jeder geht zu unterschiedlichen Zeiten schlafen und steht auf – gerade, wenn kein Job und keine Schule warten. Auch nachts mal aufzuwachen oder länger zum Einschlafen zu brauchen, ist allgemein normal – hier wird für gewöhnlich auch keine Unterstützung von außen nötig.
Das Kriterium greift, wenn jemand nachts umherirrt, im Dunkeln sehr unruhig wird oder Tag und Nacht vertauscht und beispielsweise nur tagsüber schläft.
Beispiel: Frau Müller schläft normal – bis auf gelegentliche Angstzustände. Diese fallen aber unter einen anderen Bereich und werden gleich noch mal erwähnt. Sie hat im Bereich Nächtliche Unruhe keine Einschränkungen.
Verhalten 3: Selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten
Einige Menschen verletzen sich selbst immer wieder. Damit sind keine Unfälle gemeint, sondern bewusste Handlungen. Sie schneiden oder schlagen sich beispielsweise. Einige Menschen beißen sich selbst oder kratzen sich, bis die Haut ernsthaft verletzt ist. Oder sie schaden sich selbst, indem sie ungenießbare Dinge essen oder trinken.
Manchmal sind solche Verhaltensweisen Zeichen von Demenz oder Symptome einer Krankheit (beispielsweise Kratzen stark juckender Haut). Wenn das Verhalten nicht so zu erklären ist, fällt es in diesen Bereich.
Beispiel: Frau Müller zeigt keine solchen Verhaltensweisen. Sie hat hier keine Einschränkungen.
Verhalten 4: Beschädigen von Gegenständen
Auch hier sind keine Unfälle gemeint, sondern das absichtliche Zerstören oder Beschädigen von Dingen. Beispielsweise, in dem mit Porzellan geworfen wird oder jemand seine Bettdecke zerschneidet. Auch wenn jemand das versucht – zum Beispiel nach Gegenständen schlägt oder sie tritt – aber zu schwach ist, sie zu zerstören, zählt das Verhalten unter diesen Punkt.
Beispiel: Frau Müller zeigt keine solchen Verhaltensweisen. Sie hat hier keine Einschränkungen.
Verhalten 5: Physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen
Manchmal verletzen Patienten andere Menschen oder sie versuchen es. Zum Beispiel durch Schlagen, treten, beißen oder bespucken. Auch wenn eine Person zu schwach ist, mit ihren Aggressionen echten Schaden zu verursachen, zählt der Versuch.
Auch Webschubsen, Wegdrängen oder „kratzen“ zählen hier. Häufig werfen Patienten oder Patientinnen mit Gegenständen nach Pflegekräften oder Angehörigen. Auch das sind physische Aggressionen, selbst wenn die Gegenstände nicht geeignet sind, zu verletzen (Kissen, Kleidungsstücke, …).
Verhalten 6: Verbale Aggression
Verbale Aggressionen sind Beschimpfungen oder Bedrohungen gegenüber anderen. Auch, wenn Angehörige diese Beschimpfungen vielleicht schon gewohnt sind, „zählen“ sie immer noch für diesen Punkt!
Beispiel: Frau Müller zeigt keine solchen Verhaltensweisen. Sie hat hier keine Einschränkungen oder Auffälligkeiten.
Verhalten 7: Andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten
Manchmal schreien, rufen oder klagen Personen auch während der Pflege laut. Oder sie fluchen, machen seltsame Geräusche oder geraten in eine Schleife von immer wieder wiederholten Sätzen oder Fragen. Das kann Pflegende, Angehörige oder Beistehende verunsichern und erfordert mehr Aufwand, weil man die Person beruhigen muss oder weil zum Beispiel Erklärungsbedarf entsteht.
Abwehr pflegerischer oder anderer unterstützender Maßnahmen
Manche Patienten wehren Pflege oder Unterstützung ab – sie verweigern Essen oder Körperpflege oder nehmen Medikamente nur nach viel gutem Zureden oder ähnlichem ein.
Damit ist nicht die Verweigerung von bestimmten Maßnahmen gemeint, die der Patient ablehnt (beispielsweise das Anziehen eines ungeliebten Kleidungsstücks oder auch das Anlegen einer Sondenernährung durch einen Patienten, der selbstbestimmt sterben möchte).
Beispiel: Frau Müller ist stets kooperativ und hat hier keine Einschränkungen.
Psychische Problemlage 1: Wahnvorstellungen
Manche Personen geraten in eine „Phantasie“welt, in der sie in ihrer Vorstellung mit Verstorbenen oder imaginären Personen Kontakt haben. Damit sind keine religiösen Praktiken gemeint (wie ein Gebet), sondern der Verlust der Unterscheidungsfähigkeit zwischen real und imaginär oder spirituell.
Zu Wahnvorstellungen gehören auch eingebildete Bedrohungen durch andere: Verfolgung, Bedrohung oder die Überzeugung, bestohlen zu werden.
Beispiel: Ihrem Enkel ist aufgefallen, dass Frau Müller häufiger über verstorbene Verwandte wie ihre Eltern im Präsens spricht – als hätten sie gerade den Raum verlassen. Diese Tendenz ist bisher aber nicht problematisch, weil Frau Müller auf Rückfrage immer weiß, was eigentlich Realität ist. Sie zeigt sich misstrauisch gegenüber „Fremden“, aber unternimmt nichts, um beispielsweise Wertgegenstände zu verstecken oder sich abzuschotten. Sie hat hier keine Einschränkungen.
Psychische Problemlagen 2: Ängste
Ängste oder Sorgen, die überwältigend wirken oder sogar in Angstattacken münden, zählen hier unabhängig von der Ursache. Dabei ist egal, ob die Angst sehr irrational – eine Angst vor einer plötzlichen Hungersnot oder „Verbrechern“ – oder in rationalen Ursprüngen angelegt ist (zum Beispiel Angst eines Diabetikers vor einer Unterzuckerung oder Sorge um steigende Mietpreise).
Entscheidend ist, dass die Angst personelle Unterstützung nötig macht – beispielsweise das Beruhigen oder Gutzureden.
Beispiel: Frau Müller hat in letzter Zeit immer wieder starke Angst, „allein“ zu sein. Sie kann nicht genau erklären, was ihr Sorgen bereitet, aber hält manchmal Pflegekräfte oder ihren Enkel nahezu panisch davon ab, die Wohnung zu verlassen und sie allein zu lassen. Diese Ängste treten auch nachts auf und sie wiederholt die Sorge „allein zu sterben“. Am nächsten Tag oder eine Stunde später auf die Angst angesprochen, ist ihr klar, dass sie übertrieben oder sogar „verrückt“ sind. Im Gutachten wird eine seltene Einschränkung notiert – ein Punkt.
Psychische Problemlagen 3: Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage
Personen erleben Antriebslosigkeit in depressiver Stimmungslage, wenn sie selbst kaum Eigeninitiative oder Motivation zeigen, etwas zu tun. Sie wirken oft traurig oder apathisch und manchmal auch aggressiv. Sie sind sonst nicht kognitiv eingeschränkt und können die Handlungen durchführen, aber ihnen fehlt der Impuls und Antrieb.
Einige Menschen verlassen an Tagen mit dieser Stimmung das Bett nicht oder bleiben nur in einem Stuhl sitzen. Sie reagieren oft auch nicht auf Musik und richten ihre Aufmerksamkeit nicht auf einen laufenden Film oder das Radio.
Beispiel: Frau Müller drückt aus, dass sie manchmal „traurig“ ist (vor allem nach der Angst), aber sich eigentlich nie antriebslos fühlt. Auch ihrem Enkel und der Pflegekraft sind solche Phasen nie aufgefallen – Frau Müller hat hier keine Einschränkungen.
Psychische Problemlagen 4: Sozial inadäquate Verhaltensweisen
Auffallende Verhaltensweisen gibt es in unterschiedlichen Formen. Angehörige erleben diese Verhaltensweisen oft als „peinlich“ und sie fallen dadurch auf, dass sie nicht wissen, was sie tun sollen oder wie sie mit der Situation umgehen sollen.
Beispiele sind sehr distanzloses Verhalten (durch persönliche Fragen oder Erzählungen), das auffällige und ständige Einfordern von Aufmerksamkeit (durch Lautstärke, Fragen, …), anzügliche oder sexuell belästigende Kommentare, körperliche Annäherungsversuche, das Ausziehen von sich oder andere oder das Greifen nach anderen Personen.
Beispiel: Frau Müller ist hier in keiner Weise auffällig. Sie fragt ihren Enkel zwar nach dessen Geschmack zu oft, ob er schon einen neuen Freund hat, ist dabei aber nicht aufdringlicher als andere Verwandte. Frau Müller hat hier keine Einschränkungen
Psychische Problemlagen und Verhaltensweisen 5: Sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen
Beispiele für diese Handlungen reichen von „harmlosen“ Ticks wie Ziehen an der Kleidung, Wiederholungen oder stupiden Körperbewegungen über störende Verhaltensweisen wie planlose Aktivitäten und das Verstecken oder Horten von Gegenständen bis zu stark störenden Einschränkungen beispielsweise durch Kotschmieren oder Urinieren außerhalb des WCs.
Beispiel: Hier fällt Frau Müller ebenfalls nicht auf. Sie hat hier keine Einschränkungen.
Zu unserem Beispiel
In diesem Bereich kommt Frau Müller auf „nur“ einen Punkt. Sie halt also fast keine Einschränkungen.
Modul 2 und Modul 3 werden allerdings zusammen berücksichtigt: Nur das mit der „höheren Punktzahl“ wird gewichtet. So ergeben sich 11,5 Punkte für Modul 2/3.