13.10.2023
Pflegebedürftigkeit erkennen – diese kleinen Hilfen sind Pflegeleistungen – Teil 1
Pflege fängt nicht erst an, wenn jemand sich alleine gar nicht mehr helfen kann. Die Unterstützung durch Angehörige oder einen Pflegedienst fängt oft bei vielen kleinen Hilfsleistungen an.
Diese Hilfe als Pflegeleistung zu erkennen, hilft Angehörigen und Pflegebedürftigen selbst, weil sie früh genug anfangen können, Unterstützung bei der Krankenkasse zu beantragen. Wie bei jeder Sorte Hilfe gilt: lieber früher, als erst dann, wenn es kaum noch ohne geht.
Es ist auch wichtig, diese Hilfen als Teil der Pflege darzustellen, damit andere verstehen, wie aufwändig Pflege sein kann. Wenn sich viele „Kleinigkeiten“ häufen, ist das schnell eine große Aufgabe.
Wir listen einige Beispiele für Pflegeleistungen auf und orientieren uns dabei an den Modulen, die auch zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit benutzt werden.
Pflege-Unterstützung im Bereich Mobilität
Die Mobilität ist gerade bei älteren Personen früh ein Bereich, in dem sie Unterstützung benötigen – auch wenn alles andere sehr selbstständig funktioniert.
Kleine Beispiele sind die Unterstützung beim Laufen – sowohl in der Wohnung als auch unterwegs. Wer langsam unsicher wird, bewegt sich oft noch innerhalb der eigenen Wohnung oder im Haus selbstständig, aber verlässt ungern (allein) die eigenen vier Wände.
Auch wenn das Kriterium tendenziell strikt beurteilt wird, lohnt es sich, die selbstständige Bewegungsfähigkeit im Haus im Blick zu halten. Wenn beispielsweise die Waschküche im Keller nicht mehr so leicht zugänglich ist, jemand den Weg zum Briefkasten vermeidet bis Begleitung dabei ist oder sich sogar nicht ins Bett traut, wenn niemand da ist, der (im Zweifel) beim Aufstehen helfen kann.
Kleinigkeiten fallen oft nur auf, wenn man vor Ort zu Besuch ist: auf Facebook erwähnte im letzten Monat eine Kollegin, dass zum Beispel das Öffnen und Schließen von Fenstern eine häufige "Kleinigkeit" bei Besuchen ist.
Pflegeunterstützung im Bereich kognitive und kommunikative Fähigkeiten
Ein bekanntes „normales“ Alterszeichen ist beispielsweise zunehmende Vergesslichkeit. Im Englischen ist es üblich zu sagen, man hätte einen „Senior Moment“ (Seniorenmoment) gehabt und beispielsweise die Haustürschlüssel oder Autoschlüssel nicht mehr gefunden.
Zwischen normaler Vergesslichkeit und einem grad, der Unterstützung nötig macht, liegt keine klare Kante, sondern wie in so vielen Bereichen ein fließender Übergang. Für einen Moment den Wochentag nicht zu kennen, kann sogar ein Zeichen von echter Entspannung im Urlaub sein – wer aber immer wieder überlegen muss, ob heute ein Arbeitstag ist (25 Jahre nach Rentenbeginn), ist stärker eingeschränkt.
Die Unterstützung durch Angehörige oder andere ehrenamtlich Pflegende ist hier schnell in den Alltag eingebaut. Beispielsweise, weil jemand immer wieder anruft und nach dem Tag fragt oder, ob er heute arbeiten muss. Oder, um bei Alltagsaufgaben zu unterstützen oder an Checklisten zu erinnern („Hast du den Herd ausgestellt? Ist die Haustür zu? Wann hast du zuletzt gegessen?“).
Gerade das letzte Beispiel – die Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags – fällt oft im Alltag erst nicht als „Pflege“ auf. Ein Grund dafür ist, dass das „Lebensmanagement“ von Familienangehörigen oft als nicht anerkannte Arbeit Frauen zugeschoben wird (es gibt sogar Witze darüber, dass Männer in einer Ehe mit einer Frau nicht über ihr eigenes Leben bestimmen, weil Ehefrauen beispielsweise Arzttermine, Essensauswahl, Kleiderwahl und Bekanntenkreis bestimmen oder bestimmen müssen). Ein anderer, verwandter, ist, dass diese „Arbeit“ schwer zu quantifizieren ist: wer einer Person über den Tag verteilt in Gesprächen immer wieder versichert, dass Samstag ist, zählt ja kaum die Sekunden, die für genau diesen Teil des Gesprächs drauf gehen.
Gegenüber der Krankenkasse bzw. Pflegekasse und dem medizinischen Dienst bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit ist es aber wichtig, diese Punkte zu erwähnen.
Pflegerische Unterstützung bei auffälligem Verhalten und psychischen Problemlagen
Dieses Modul ist in mehrerer Hinsicht ein wichtiger Punkt für das Nennen von „kleinen“ Unterstützungen oder Auffälligkeiten. Erstens werden einige Verhaltensweisen oft klein geredet, weil sie schon so lange bestehen – wenn beispielsweise das beleidigende Verhalten eines älteren Menschen schon lange Teil seines Auftretens ist. Andererseits, weil Auffälligkeiten hier so oft verschwiegen werden, aus Angst, jemanden als „verrückt“ zu bezeichnen und damit zu stigmatisieren.
Beispiele für „kleine“ Auffälligkeiten
Beispiele für kleine Auffälligkeiten, die pflegerelevant sind, sind vor allem wachsende Angstzustände oder Aggressivität. Beispielsweise kann es sein, dass jemand immer wieder versucht, Besuch am Gehen zu hindern. Oder eine Person ruft immer wieder an, um lange oder immer länger werdende Wuttiraden abzuspulen darüber, wie die ganze Welt/die Nachbarschaft/eine spezifische Gruppe ihr Leben schwieriger macht.
Extremere Auffälligkeiten werden von vielen Menschen trotzdem als Kleinigkeiten heruntergespielt. Wenn beispielsweise eine alte, gebrechliche Frau immer wieder beim Essen frustriert wird und ihre Serviette oder Essen nach anderen wirft. So etwas tut zwar körperlich nicht weh, aber wenn Frust oder Traurigkeit zu Aggressionen werden, ist das immer relevant.
Es kann auch sein, dass ein sonst fitter und robuster Mann beispielsweise immer mehr Angst vor Einbrechern oder „Angreifern“ hat und sein Haus abriegelt. Plötzlich müssen auch Angehörige sich beim Besuch immer wieder „verifizieren“ und versichern, keine bösen Absichten zu haben.
Wieso die „Kleinigkeiten“ für die Pflege relevant sind
Eine häufige Frage: Inwiefern sind beispielsweise Beleidigungen, wütende Reden oder ängstliche Fragen durch eine pflegebedürftige Person überhaupt relevant für die Pflege – es kostet ja keine zusätzliche Zeit oder Aufwand, sich beschimpfen zu lassen oder zuzuhören? Doch – in mehrerer Hinsicht. Erstens kostet es Energie (und damit Zeit), Beleidigungen zu verarbeiten, egal wie gewohnt oder unpersönlich sie sind. Selbst professionelle Pflegekräfte, die seit Jahrzehnten mit psychisch schwer kranken und aggressiven Menschen arbeiten, müssen sich aktiv Zeit nehmen, um diesen Stress zu verarbeiten – genauso wie auch trainierte Extremsportler*innen auch beim Spazieren gehen noch Energie verbrauchen und nicht endlos lang laufen können.
Zweitens kostet es Zeit, eine aufgebrachte Person zu beruhigen oder auf die Äußerungen zu reagieren. Einen anderen Menschen „einfach zu ignorieren“ ist nie einfach und gerade bei psychischer Unruhe der Personen nicht angemessen.
Deswegen ist es auch völlig angemessen, sich schon bei „kleinen“ Pflegeleistungen so früh wie möglich Unterstützung zu holen. Im besten Fall wird die erste kleine Belastung dadurch aufgehoben. Und im Zweifel ist jemand da, falls aus kleinen Problemen größere werden.