07.06.2024
Keine überraschende Explosion der Pflegezahlen
Karl Lauterbach kündigte im letzten Monat groß an, dass „überraschend“ mehr Pflegebedürftige im Jahr 2023 „aufgetaucht“ sind, als erwartet. Statt rund 50 000 wären es 320 000. Der Trend stimmt – aber die Zahlen sind populistisch aufbereitet.
Pflegebedarf nicht so überraschend wie behauptet
Recht schnell nach der Ankündigung erklärte das ZDF online schon, wie die „überraschenden“ Zahlen entstanden: die Berechnung wurde schlicht beschönigt. Im Detail geht es darum, dass man mit zwei Definitionen von Pflege arbeiten kann: einer alten, und einer „neuen“, die mittlerweile seit sieben Jahren Pflege definiert. Der hier wesentliche Unterscheid ist, dass unter dem „neuen“ Pflegebegriff auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen – zum Beispiel Demenz – berücksichtigt werden.
Mit dem „alten“ Pflegebegriff wäre mit 60 000 zusätzlichen Pflegebedürftigen mehr in einem Jahr zu rechnen (statt der „rund“ 50 000, von denen Lauterbach sprach). Mit dem neuen, oder um es korrekter zu sagen: aktuellen Begriff von Pflege war mit 200 000 zu rechnen.
Dieser Effekt ist übrigens laut ZDF auch nicht überraschend: der „Einführungseffekt“ bei der Berechnung der Zahlen ist nicht neu.
Potenzielle Einflüsse
Einen weiterer möglicher Grund für den Anstieg kann man auch heute noch in der Corona-Epidemie suchen. Abgesehen von potenziellen Langzeitfolgen sind schlicht Verarbeitungsprozesse in Familien und Verwaltungsprozesse in Krankenkassen immer noch von Nachwirkungen geprägt. Beispielsweise haben Reha-Einrichtungen anhaltend lange Wartezeiten.
Nicht selten ist so eine Reha auch ein Anstoß für die Feststellung, dass jemand pflegebedürftig ist. Die Person, die in die Reha fährt und wiederkommt, um festzustellen, dass eine Erkenntnis aus der „Erholung“ war, dass sie nicht genügt – es ist alltägliche Unterstützung nötig. Oder das Fehlen der Betreuungsperson durch die Reha macht zuhause deutlich, dass bei Angehörigen ständige Betreuung nötig ist.
Panik und lauter Lärm
Um noch mal auf einen Artikel des ZDF zu verweisen: ein anderer Artikel verleiht Lauterbach den wohl passenden Titel „Ankündigungsminister“.
Wie wir schon in früheren Artikeln zum Minister bemerkt haben: Populismus und Meinungsmache kann er. Nicht ohne, dass es auch Substanz gibt – aber eben auch nicht ohne Agenda, die sich hinter dem lauten Rufen versteckt.
Das ZDF fragt, ob den vielen Ankündigungen auch Umsetzungen folgen. Wir ergänzen die Frage, ob die Ankündigungen nicht selbst teilweise Fakten schaffen sollen. Mit „320 000 statt rund 50 000“ entstand genug Panik, dass eine Erhöhung der Pflegebeiträge diskutiert wird.
Dabei stellt sich die Frage, ob das wirklich politisch gedacht ist: Die Panik kommt bei allen an, die Kostenerhöhung auch – aber ändert sich wirklich etwas in der Pflege?