19.04.2024
Das Für und Wider, Hin und Her der Pflegekammern
Auch in Baden-Württemberg wird die Gründung einer Pflegekammer diskutiert. Als Beispiele für gescheiterte Pflegekammern stehen Niedersachsen und Schleswig-Holstein bereit, als Beispiel für eine funktionierende Kammer wird Rheinland-Pfalz genannt. NRW steht mit der noch jungen Pflegekammer auf der Kippe – In BW wird sie erwähnt, aber nicht richtig beurteilt.
Die gewählte Präsidentin der Pflegekammer NRW, Sandra Postel, äußert sich dagegen in einem Interview mit der Rheinischen Post direkt zu Kritik an der Kammer in NRW und geht auch auf Argumente ein, die in Baden-Württemberg gegen die Pflegekammer erhoben werden.
Ein Sprachrohr mit Zwang
Ein Hauptargument der Pflegekammerbefürworter ist, dass die Pflege ein Sprachrohr braucht. Der Flickenteppich aus verschiedenen Organisationen, Interessenverbänden und Vertreter*innen kann nicht die gleiche Stimmkraft und „Lautstärke“ haben, wie eine Pflegekammer.
Auf der anderen Seite hält beispielsweise ver.di in BW dagegen, dass die Pflegenden bisher nicht wegen mangelnder Organisation überhört wurden – sondern schlicht im Rahmen einer Art von struktureller Diskriminierung. Pflegende sind Ärzt*innen untergeordnet – egal, wie gut organisiert sie auftreten, das Privileg der „Halbgötter in Weiß“ bleibt bestehen.
Ein großer Streitpunkt ist die verpflichtende Mitgliedschaft in der Pflegekammer. Natürlich drängt sich die Idee auf, dass ver.di hier um Mitglieder fürchtet, weil jemand, der beruflich schon von der Pflegekammer vertreten wird, vielleicht keiner Gewerkschaft mehr beitritt. Ein klares Argument hiergegen wird auch bei Postel nicht ganz deutlich: eine Pflegekammer, die den Berufsstand vertritt und Belange aus fachlicher Sicht vertritt, ist etwas anderes als eine Gewerkschaft, die die Rechte und Pflichten von Angestellten vertreten soll und kann?
Postel verweist darauf, dass die Kammer ver.di keine Mitglieder wegnehmen möchte, ver.di hingegen erklärt zurecht, dass eine verpflichtende Mitgliedschaft inklusive Gebühren Einzelne definitiv davon abbringen kann, sich (unter Aufbringung von Mitgliedsbeiträgen) doppelt vertreten zu lassen.
Streitpunkte von Berufsstand bis Weisungsbefugnis
Was anspruchsvoll und etwas glorifizierend klingt – die Ehre des Berufsstands – kann auch als überheblich und restriktiv verstanden werden.
Ein „Berufsrecht“ bedeutet, dass die Pflegekammer Vorgaben dazu machen kann, wie sich ihre Mitglieder zu verhalten haben. Das kann verhängnisvoll oder verheißungsvoll sein: in der einen Perspektive gibt es eine Art Gesinnungskontrolle durch ein letztlich staatlich legitimiertes Organ, in der anderen einen klaren Anspruch der Pflegenden an sich selbst.
Die Argumentation von Postel für ein Berufsrecht der Pflege beinhaltet das Beispiel einer Pflegeperson, die (außerhalb der Arbeit) eine schwere Straftat begangen hat. Dieses Verhalten soll neben strafrechtlichen auch berufliche Konsequenzen haben – nicht jede*r ist/bleibt für die Pflege „geeignet“. In der Befürchtung von ver.di läuft es eher darauf hinaus, Verhalten außerhalb der Arbeit auch dahingehend zu kontrollieren, dass Kritik nicht mehr öffentlich geäußert werden darf – ganz nach dem bekannten verheerenden Motto „Darüber spricht man nicht“.
Ein weiterer großer Diskussionspunkt sind Klauseln, die das berufliche Verhalten der Pflegekräfte in zwei Richtungen reglementieren sollen: untereinander sollen professionell Pflegende Fehler von anderen nicht nur erwähnen können, sondern eben müssen. Der positive Effekt wäre idealerweise ein offenerer Umgang mit Fehlern, die dadurch reduziert werden können. Der negative ein Aufwiegeln der Pflegenden gegeneinander, bei dem die Suche nach Fehlern bei anderen in den Vordergrund rückt, während der Zusammenhalt geschwächt wird.
Die zweite Richtung der Klauseln sind verschiedene Regeln oder Ansprüche der Pflegenden im „Außenverhältnis“, genauer genommen gegenüber nicht fachlich ausgebildeten, aber formal weisungsbefugten Vorgesetzten oder Kolleg*innen. Ein Beispiel für ver.dis Dystopie: eine Pflegekraft in der Psychiatrie, die keine Anweisung einer Psychologin, eines Heilpädagogen oder sogar einer Ärztin nicht umsetzen könnte/dürfte. Das Beispiel der Utopie der Pflegekammer: die menschliche Stechuhr einer vorgesetzten Person, die Pflege-Güte für Zeitersparnis opfern möchte.
Auf die Ausgestaltung kommt es an
Am Ende clashen zwischen der Darstellung der Kritiker und der Darstellung der Pflegekammer Welten aufeinander, weil unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen – natürlich kann eine Entwicklung im schlimmstmöglichen Fall zur Katastrophe weiterer Entmündigung der Pflegekräfte in NRW (bzw. BW) führen und in der besten aller Welten zur substanziellen Verbesserung der Situation der Pflegekräfte im jeweiligen Bundesland und dann vielleicht sogar Deutschland.
Andererseits ist auch die Überladung mit extremen Übererwartungen eine einfache Möglichkeit, die Kammer von Anfang an zum Scheitern zu verurteilen: natürlich kann selbst die beste aller Pflegekammern die Pflege nicht weiterbringen, wenn ihr von der Politik keine Möglichkeiten eingeräumt werden – das kann eine ignorierte oder geschwächte Gewerkschaft aber auch nicht.
Und natürlich kann die nicht organisierte Pflege sich schlecht mit einer Stimme melden – eine zerstrittene Pflegekammer oder eine Kammer, hinter der niemand mehr als die Mitglieder der Vertretung steht, aber auch nicht.