Ende der 24-Stunden-Dumping-Pflege?

18.09.2020

Ende der 24-Stunden-Dumping-Pflege?

Nach einem aktuellen Urteil zu einer Pflegekraft, die sogenannte „24-Stunden-Pflege“ im Haushalt einer älteren Frau leistete, gerät das Angebot vieler Vermittlungsdienste ins Wanken.

Die versprechen ihren Auftraggebern 24 Stunden Pflege am Tag – setzen mit Angestellten dann aber nur Verträge für rund 4,5 Stunden pro Tag auf. So bezahlen sie (und die Auftraggeber) nur einen Bruchteil dessen, was eine Versorgung für diese Zeit tatsächlich kosten würde und müsste.

Der aktuelle Fall vor Gericht

Der DGB berichtet über den Fall einer bulgarischen Pflegekraft, die erfolgreich auf die Nachzahlung ihres vollständigen Lohns geklagt hat.

Sie wurde für 30 Stunden in der Woche eingestellt, musste dann aber 24 Stunden am Tag arbeiten – den riesigen Unterschied versuchte die angeklagte bulgarische Firma vor Gericht durch Pausen „während des Mittagsschlafes“ der Seniorin und andere fadenscheinige Erklärungen wegzuargumentieren. Vergeblich – denn die Situation ist gut dokumentiert.

Mit Hilfe des DGB setzte die Pflegekraft ihre Rechte durch und erhält Lohnzahlungen in Höhe des Mindestlohns für all die bisher nicht gezahlten Stunden.

Ein typisches Geschäftsmodell

Der Verlauf ist recht typisch für das Geschäftsmodell der 24-Stunden-Pflegedienste: Das Unternehmen stellt die Pflegekräfte im europäischen Ausland, zum Beispiel Polen oder Bulgarien an. Es tritt als „Vermittler“ auf und bietet die Pflege in Deutschland Familien an. Die beauftragen dann das Unternehmen und es wird ein Vertrag mit der Pflegekraft geschlossen. Die Auftraggeber, hier die Familie einer älteren Frau, bezahlen für 24-Stunden-Pflege: Die Pflegekraft lebt im Haushalt der Frau und steht rund um die Uhr zur Betreuung zur Verfügung.

Zu ihren Aufgaben gehört die Betreuung – also einfach die Unterhaltung und Gesellschaft für die Frau – aber auch leichte Pflegeaufgaben. Sie ist mit der Verpflegung, Haushaltspflege und Beschäftigung voll beschäftigt. Zwischen sechs Uhr morgens und 23 Uhr abends steht sie zur vollen Verfügung – und muss nachts darauf vorbereitet sein, dass die alte Frau Hilfe benötigt.

Statt einer Vergütung für diese vollumfängliche und kaum zu leistende Pflege hat die Pflegekraft aber nur einen Vertrag über 30 Stunden in der Woche: Angeblich soll sie die 24 Stunden Pflege in weniger als 4,5 Stunden pro Tag leisten können.

So zahlen deutsche Familien nur einen Bruchteil dessen, was die Rund-um-Betreuung eigentlich kosten müsste. Die „Vermittler“ verdienen noch dick an den Unterschieden. Und die Pflegekräfte aus dem Ausland denken, sie hätten nicht die gleichen Rechte wie deutsche Arbeitnehmer, weil ihre Arbeitsverträge das suggerieren.

Ein Armutszeugnis für das deutsche Pflegesystem

Die Beweggründe für alle beteiligten liegen auf der Hand: Altenpflege in großem Umfang kann in Deutschland kaum eine Familie stemmen. Die Zeiten, in denen ein Mensch mit einem Vollzeitjob genug Geld verdiente, um eine vierköpfige Familie (und ältere Verwandte) zu finanzieren, sind vorbei. Deswegen funktioniert auch die Aufteilung nicht mehr, dass einer für Geld von außen arbeitet und einer den Haushalt und die Betreuung von Kindern – und anderen Verwandten – übernimmt.

Stattdessen arbeiten die meisten Menschen und können sich nicht erlauben, vom verdienten Geld viel für Kinderbetreuung oder die Pflege älterer Verwandter zu bezahlen. Gleichzeitig sieht das Gesundheitssystem vorwiegend eine Versorgung von Krankheiten und Problemen im Alltag durch nachlassende Fähigkeiten vor und berücksichtigt die soziale Versorgung kaum.

Klar, dass Familien also gerne die Geschichten der Vermittlungsagenturen glauben: Die behaupten, dass die Pflegekräfte aus dem Ausland „gerne“ in Deutschland arbeiten, denn hier verdienten sie immer noch mehr, als zu Hause. Über die Details denken die Familien dann lieber nicht nach. Wer das tut, müsste verstehen: Selbst die 21 Stunden angenommener Pflegezeit pro Tag kosten beim kommenden Mindestlohn 263,55 €. 7 Tage in der Woche sind das 1 845 € und damit im Monat 7380 €. Die sind kaum vergleichbar mit den 1 500 €, die die Ausbeuteragenturen abrechnen.

Und klar, dass die Pflegekräfte die Jobs annehmen, wenn das eben ihre einzige Chance ist, für ihre Familien Geld zu verdienen (neben anderen, klassischen Dienstleistungen, die Deutschland ebenfalls importiert).

Und klar, leider, dass die Vermittlungsagenturen die Situation ausnutzen und Geld daraus schöpfen.

Denn Deutschland bietet keine validen Alternativen für Familien, die die Pflege nicht selbst leisten können, aber Angehörige auch nicht in Pflegeheime mit dubiosen Qualitätsstatistiken schicken möchten.

Scheinheiligkeit der deutschen Politik

Wie der DGB ausführt: Die Situation ist in Deutschland ein offenes Geheimnis und von der Politik durchaus mehr oder weniger gewollt. Denn anders lässt sich die prekäre aktuelle Situation nicht überbrücken.

Die Lage zeigt aber auch wieder mal die Scheinheiligkeit von Spahn’schen Vorstößen auf, beispielsweise die häusliche Intensivpflege zu reduzieren: Hier wird qualitativ hochwertige Pflege von Pflegekräften geleistet, die von deutschen Pflegediensten bezahlt werden. Dieser sehr guten Arbeit werden die schwarzen Schafe vorangestellt, die durch ähnliche Ausbeutermodelle Dumpingpflege betreiben und dann von Herr Spahn als Ausrede genommen werden, Geld aus der Intensivpflege zu pumpen – statt überall mehr in gute, echte Pflege zu investieren.

Deutschland, das reiche Nachbarland, muss verstehen: Persönliche Pflege zu Hause kostet Geld – wenn wir das nicht über unsere Steuern bezahlen wollen, dann haben wir moralisch keine Alternative zur Massenabfertigung in Pflegeheimen.