20.08.2021
Achtsamkeit und Pflege
Achtsamkeit ist in aller Munde und wird scheinbar überall praktiziert. Auch in der Pflege? Achtsam zu pflegen kann sehr helfen, wenn die Pflegenden oder die Gepflegten die Pflegesituation als stressig oder belastend empfinden.
Ähnlich wie wir bei der Familienzentrierten Pflege die Perspektive wechseln und uns darauf konzentrieren, wie gute Pflege mehr als nur Handwerk sein kann, kann jede einzelne Person das bei der Pflege durch Achtsamkeit auch tun.
Ist Achtsamkeit nicht nur ein Trend?
Achtsamkeit oder englisch mindfulness bezieht sich auf eine Reihe von Methoden, um die eigene Perspektive auf eine Situation und die eigenen Reaktionen darauf wahrnehmend zu verändern. Dabei wird oft das Akzeptieren und Annehmen in den Vordergrund gestellt: Statt sich dafür zu verteufeln oder damit zu kämpfen, dass man beispielsweise Ekel empfindet, nimmt man das Gefühl einfach an. Man trennt das Gefühl und seine Handlungen.
So vereinfacht gesagt – denn es ist natürlich immer einfacher, eine Theorie am simplen Beispiel zu erklären, als sie dann zu praktizieren – klingt das natürlich auch gut für die Pflege. Wer gestresst ist, akzeptiert den Stress und handelt nicht mehr gestresst, sondern entspannt. So weit zu kommen, erfordert eine Menge Arbeit und ist manchmal auch der falsche Weg. Eine Pflegekraft, die einfach zu viel aufgehalst bekommt, sollte nicht üben, damit umzugehen, sondern darauf pochen, ein angemessenes Maß an Arbeit zugeteilt zu bekommen.
Achtsamkeit ist eben auch ein Trendbegriff – deswegen kann man hier ein sehr breites Konzept mit der Pflege verbinden. Einerseits gibt es die professionelle Ausbildung zum Achtsamkeitstherapeuten, andererseits gibt es sehr günstige Ausmalbücher in jedem Zeitschriftenladen, die „Achtsamkeit fördern“ sollen. Beides kann helfen! Eine richtige Therapie eher bei größeren und die kleine Ausmalauszeit bei kleineren Stressfaktoren.
Der Schritt in die Achtsamkeit
Einführungen in die Achtsamkeit starten oft mit einfachen kleinen Übungen. Dabei steht im Vordergrund, etwas gegenwärtiges voll zu erleben – achtsam für alle Wahrnehmungen und Prozesse zu sein. So eine Übung ist beispielsweise das Essen einer Rosine (die man vorher fühlt, riecht, …) oder das „stille Sitzen“.
Diese kleinen Übungen haben auf den ersten Blick nichts mit Pflege oder Stress zu tun. Sie können aber auf zwei Arten helfen: Erstens sind sie bewusste Auszeiten. Wer sich – am Anfang darf man sich dabei ruhig auch komisch fühlen oder ein bisschen lustig machen! – voll auf eine Rosine konzentriert oder einen Stein oder das eigene Atmen, der macht automatisch einen Schritt zurück aus der aktuellen Situation. Und das ist einfacher, wenn die „Ablenkung“ etwas ist, das man sonst nie so genau wahrnimmt, weil man sich dafür noch etwas „anstrengt“. Von der Lieblingsserie oder einem Buch schweifen die Gedanken eben doch zu leicht wieder zum Stress zurück.
Die zweite Art ist, dass viele der kleinen Übungen eine andere Art der Wahrnehmung trainieren. Man übt, das Hier und Jetzt ganz bewusst wahrzunehmen. Wer ganz leicht in diese Perspektive wechselt, kann das in guten Momenten tun, um sie ganz mitzunehmen. Und in schlechten für die Problemlösung.
Achtsame Pflege: Nicht nur passiv
Achtsamkeit und Anleitungen dazu sind oft von einer gewissen Passivität geprägt. Das „aktive Wahrnehmen“ bedeutet im ersten Moment, dass wir gelähmt sind, auch zu handeln. Das ist meist aber gar nicht so schlecht, weil eine schnelle oder sogar hastige Reaktion im Umgang mit Stress nicht wirklich hilft. Das berühmte „zähl bis zehn!“ kann man umwandeln, und in einer belastenden Situation konzentriert wahrnehmen, was passiert.
Als ein erster Schritt ist es auch hilfreich zu lernen, die eigene Wahrnehmung, Reize von außen und die eigenen Reaktionen einfach nur wahrzunehmen. So ist es eben gerade – ich bin wütend, es ist sehr laut, hier riecht es unangenehm, mein Gegenüber ist traurig, die Sonne scheint warm, die Blume dort ist schön, … Der Gedankenstrom fließt und alle Eindrücke werden erst einmal unverarbeitet durchgelassen. Das kann helfen, die Intensität einer Situation zu verringern.
Der zweite Schritt kann und darf aber auch in der Achtsamkeit handeln sein. Der Wahrnehmung ohne Bewertung darf das Sortieren folgen. Was ist gut, was soll also mehr da sein, was ist schlecht, was soll weg?
Anders als vorher sortiert man jetzt aber Eindrücke und nicht abstrakte Konzepte. „Wie soll ich hier arbeiten, wenn es so stinkt?!“ ist ein wütender Gedanke, in den die Verzweiflung über viele Kleinigkeiten rein fließen kann – zu viel Arbeit, zu viel Stress, zu viele Aufgaben, …
„Der Geruch hier stört mich“ ist eine Wahrnehmung. Und sie führt zu der Schlussfolgerung, dass man etwas gegen den Geruch tun kann.
Achtsamkeit für pflegebedürftige Menschen
Pflegebedürftigen Menschen kann Achtsamkeit auch helfen. Die erwähnten kleinen Übungen können die gleichen sein – Dinge einmal ganz bewusst und vollständig wahrnehmen, das ist für viele (wieder) neu. Und kann ähnlich wie bei Pflegenden für Entspannung sorgen.
Zusätzlich bedeutet Achtsamkeit als konkretes Thema zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen, dass ein Austausch über Wahrnehmung stattfindet. Es klingt wiederum banal, aber: Wenn ich merke, dass meine Sinneswahrnehmung „wichtig“ ist (wie riecht, schmeckt, klingt, … die Rosine?), dann ist es einfacher, über andere Wahrnehmung zu sprechen (Am Unterschenkel berührt zu werden finde ich unangenehm, ich mag die grüne Seife lieber als die orangene, mir fehlen meine Kinder, …).
So muss eine pflegende Person – Angehörige oder Fachkräfte – kein Therapeut werden, aber kann doch auf simpler Ebene dem pflegebedürftigen Menschen näher kommen. Das entlastet, auch im Pflegealltag.